Das erste Wort

So also sah die Mitte aus.
Eine verdammte, fast zugewucherte Lichtung im malvenfarbenen Dschungel eines Planeten, der, vom All aus betrachtet, wie eine angekohlte, zu lange in der Ursuppe geschmorte Kartoffel aussah. Begleitet wurde Pandora von drei Monden, kleiner, großer und gewaltiger Murks genannt.
Ein wirklich putziges Sternensystem, dachte sie.
Über den Wipfeln der Würgebäume des Waldes standen die beiden Riesensonnen Hip und Hop am fremden Himmel und versuchten, die Synapsen hinter Eleonores Stirn zu schmoren. Pandora kocht das Hirn, hatte sie eine feiste Panzerechse an der Hotelbar des Raumhafens gleich nach ihrer Ankunft gewarnt und dabei versucht, möglichst wenig von dem gefürchteten Bumba-Bier zu verschütten, dass das Hirn noch schneller zersetzte als die Hitze.
Das war jetzt wie lange her? Sie versuchte sich zu erinnern, aber die Zeit auf Pandora war so tückisch wie der Dschungel um sie herum.
Nichts war, was es vorgab zu sein, nicht mal die Zeit.
Diese lief in Schleifen, und manchmal machte sie Rösselsprünge wie ein übermütiges Kind. Da konnte es passieren, dass man sich selbst begegnete, was sich als unangenehmer herausgestellt hatte als vermutet. Viele konnten sich nicht ausstehen und besonders die Klugscheißer gerieten als Erste mit sich aneinander. So hatte Eleonore infolge dieser lästigen Zeitschleifen nach und nach die meisten Teilnehmer ihrer Expedition verloren. Fatalerweise waren die noch übrig Gebliebenen später auf das dschungelüberwucherte Wrack eines Raumgleiters mit einer noch intakten BumbaBier-Destille gestoßen. Tja, das Schicksal hatte wohl Humor, aber vielleicht war es auch nur zynisch. All ihre gemeinsamen Erinnerungen an die Entbehrungen, Gefechte, Massaker, an all diese Leiden und hirnrissigen Abenteuer, die sie zusammen bestanden hatten, ertränkt in duseliger BumbaBier-Seeligkeit. Selbst der sonst so besonnene doppelte Major* hatte seinen großen Zeh im Rausch mit einem bleichen Dschungelgewürm verwechselt und ihn beherzt mit einem Plasmawerfer weggeblasen. Schade um die schönen Stiefel, hatte er noch heiser geflüstert, dann war der Werfer in seiner Hand explodiert. Verfluchte Hitze.
Eleonore schreckte aus ihren Gedanken auf und starrte angewidert auf das Gebäude im Zentrum der Lichtung. Eine Kreuzung aus Kathedrale und Tankstelle. Schimmel fraß sich durch das Mauerwerk und die zwei Glockentürme erinnerten sie an die maroden, rostigen Zapfsäulen einer Sektenbetankungsanlage im Orbit von Troja, eines Planeten, auf dem Pferde als Teufelswerk galten.
Diese architektonische Entgleisung, fand sie, passte nur zu gut zu der ganzen bisherigen Suche nach der Mitte der Milchstraße. Wie hatte sie sich nur auf diesen kosmischen Indiana Jones-Quatsch einlassen können.
„Suche die Mitte und Du findest das Wort.“
„Welches Wort?“, hatte sie damals den bekifften Alten im weißen Kaftan gefragt und in die endlose Weite der tibetanischen Bergwelt gestarrt.
„Das erste Wort. Jenes Wort, welches Alles und Nichts seit dem Anbeginn der Zeit zusammenhält, zwischen den Sternen des Universums schwingt und die Symphonien der Galaxien befeuert. Das Wort, in dem sich das ganze Geheimniss der Schöpfung manifestiert.“ Diese Begebenheit lag jetzt Jahre zurück.
Aber gut, nun hatte sie die Mitte gefunden und die war irgendwie – heruntergekommen, was sie wieder an den schrägen Alten erinnerte. Sie hätte zu Hause bleiben sollen.
Ein paar Gebetsfahnen hingen schlaff in der Hitze vor dem Eingangsportal des monströsen Bauwerkes. Sphärische Musik kam auf, zusammen mit einer kühlen Brise. Eleonore dachte an die Sterne.
Sie trat vor das Portal, atmete dreimal tief durch und klopfte. Die Flügeltüren schwangen sanft zur Seite, sie trat ein und ein Mantel aus Dunkelheit, eine Dunkelheit wie aus der Finsternis aus den Anfängen der Zeit gewoben, umschlang sie. Dann gingen nacheinander kleine Lichter an und plötzlich tanzten Myriaden von Leuchtkäfern unter der Decke einer gewaltigen Wandelhalle ein Lichtballett zu den anschwellenden Klängen der Sternenmusik. Augenblicklich war Eleonore überwältigt. Alle Ängste, alle Zweifel fielen von ihr ab wie lästiger Staub. Die Suche stand vor ihrem Ende, die Prophezeiung würde endlich in Erfüllung gehen. Eine Ruhe überkam sie, als wäre sie im Inneren einer tibetanischen Gebetsmühle. Wie in Trance schwebte sie auf einer Wolke kosmischer Gelassenheit durch die Gänge und Hallen, drang immer tiefer ein in dieses Labyrinth aus Licht, Schatten, Klängen und dem Duft der Unendlichkeit. Der Geruch erinnerte sie an verbrannte Gummibärchen. Das war unangenehm.
Dann, später oder gerade, die Zeit spielte ihr wieder Streiche, fand sie sich in einem düsteren Gang wieder, in dem es nach Weihrauch stank und kleine Kerzen in einigem Abstand am Boden standen. Sie folgte den Lichtern, passierte endlose Biegungen und zahlreiche Abzweigungen. Immer wieder kam sie an Türen vorbei, doch sie widerstand der Versuchung, diese zu öffnen, warum, wusste sie nicht zu sagen. Irgendwann genügte ihr das Herumgerenne und ihre kosmische Gelassenheit verlor sich mit ihrer trockenen Kehle – der gefürchtete Pandora-Durst. Da stieß sie dankenswerterweise auf zwei kleine Kinderengel, Putten wohl, die an einem gewaltigen Joint zogen und ihr einen großen Pint BumbaBier reichten, wobei sie lässig mit dem Daumen über die Schulter nach hinten in die Dunkelheit deuteten.
„Dort?“, fragte Eleonore.
„Genau, Schwester“, erwiderte einer der himmlischen Rotzlöffel. Wütend stapfte sie in die angegebene Richtung und folgte der Lichterkette am Boden. Allmählich ging ihr der ganze Esoterikhumbug mit dem Universum und dem ganzen Rest mächtig auf die Nerven. Sie wurde immer zorniger, bis plötzlich eine unscheinbare alte Holztür weit offen stand und die Teelichter sie einluden, den Raum zu betreten. Eine seltsame Anspannung bemächtigte sich ihrer, sie kam sich plötzlich vor wie ein Physiker auf der Jagd nach dem Higgs-Teilchen.
Ehrfürchtig schlüpfte sie durch die Tür, über der in großen goldenen Lettern stand ‚Die Mitte von Allem und Nichts‘. Der Raum erwies sich als kleines, stickiges, schlecht beleuchtetes Kabuff mit einer wackligen Holzbarriere. Dahinter saß ein abgerissener Engel mit umgeschnallten Flügelchen, löchrigen Wollhandschuhen und einem lila Schal um den Hals. Eine Sommergrippe, vermutete sie. Die himmlische Bürokratie war eine wunderbare Einrichtung, in jedem Universum, solange man ihr aus dem Weg gehen konnte. Eleonore wünschte: „Gesundheit“.
„Was wollen Sie? Wir haben zur Zeit geschlossen.“
„Ich möchte das Wort besichtigen, jetzt!“, sagte Eleonore mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme. Der Engel schaute überrascht auf und schob automatisch, Eleonores Befehlsstimme folgend, einen Stapel Formulare über den Tresen.
„Die meisten wollen es hören“, grummelte er missmutig, „aber bitte, Sie wollen es sehen, mal was anderes, unterschreiben Sie da und da und so weiter.“
Der Dürre zeigte mit seinem Finger, der aus der Spitze seines abgeschnittenen Wollhandschuhs stak, auf die untere Zeile eines jeden Formulars und fuhr fort: „Alle Formulare sind gut leserlich in Blockbuchstaben auszufüllen. Kritzeln Sie nicht über den Rand hinaus. Beantworten Sie nur, was Sie gefragt werden. Unterlassen Sie überflüssige Erklärungsversuche. Bleiben Sie bei der für Sie gültigen Wahrheit.“
An dieser Stelle seiner Belehrung blickte der Dürre auf. „Sie haben doch eine?“
„Eine für mich gültige Wahrheit? Nein, momentan leider nicht“, gestand Eleonore mechanisch.
Der Wächter ordnete daraufhin den Stapel der Formulare neu und ließ sie, bis auf einige wenige, wieder unter dem Tresen verschwinden.
Sie begann mit dem Papierkram. Obenauf lag eine Verschwiegenheitserklärung, die sie überflog und unterschrieb. Es folgten Fragebögen zu persönlichen Daten, Krankengeschichte, familiären Verhältnissen, Anzahl der Kinder, Einkommenssituation und dergleichen mehr.
Richtig interessant wurde es erst etliche Fragebögen später.
Bei der Frage ‚Grund der Reise?‘ schrieb sie ‚Neugier‘.
Darauf reagierte das Formular und fragte ‚Worauf?‘
‚Auf den Sinn von allem‘, antwortete sie und glaubte in dem Moment vielleicht sogar daran.
Das Formular antwortete ‚Interessant, und warum?‘ Das wusste sie auch nicht so genau und schrieb ‚Aus Trotz.‘
Da wechselte das Formular das Thema. Die nächste Frage lautete ‚Glauben Sie an höhere Wesen? Ja, nein, vielleicht, gegebenenfalls, wechselhaft, weiß nicht. Zutreffendes bitte ankreuzen.‘
Eleonore kreuzte ‚gegebenenfalls‘ an. Die folgende Aufgabe auf dem Formular machte sie stutzig. Da stand ‚Definieren Sie gegebenenfalls.‘
Sie schrieb: ‚Wenn der Fall gegeben ist.‘
‚Wann wäre das?‘, kam die Gegenfrage.
‚Jetzt‘, antwortete Eleonore und knallte den Stift auf den Tresen.
‚Aha‘, antwortete das Formular und ergänzte schnell ‚Genehmigt‘, wonach es sich selbst stempelte, mehrfach kopierte und ablegte.
Plötzlich verschwand die Barriere wie eine Fata Morgana und Eleonore stand vor einem nicht sehr großen, schwarzen, von einem burgunderroten, schweren Samtvorhang verhüllten Granitstein. Sie trat näher, verweilte einen Augenblick unschlüssig, kniff nervös ihr rechtes Auge zusammen, ein alter Tick von ihr, und schob dann den Vorhang zur Seite.
‚Wow, gleich sehe ich das Absolute‘, dachte sie noch und sah nach oben. Ein Spot ging an und fiel auf ein einziges, in den Granit geschlagenes Wort. ‚ÄTSCH‘ stand dort in einfachen Buchstaben zu lesen.
‚Scheiß auf das Absolute‘, schoss es ihr da durch den Kopf, ‚so viel zur Esoterik im Weltraum.‘ Dabei wehten auf einmal sanft die Klänge eines Louis Armstrong-Songs durch die düsteren Gänge und trugen ihre Gedanken mit sich fort als, wären sie aus Luft und Harmonie gewebt.
„Oh, what a wonderful world …“

*Der Doppelte Major hieß so, weil er Major, Major genannt wurde, nachdem er sich selbst hatte befördern müssen, weil es kein anderer hatte tun wollen. Und so eine Selbstbeförderung geht nur im gleichen Rang. Der Autor trauert um diesen tapferen Soldaten.

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